TÜR
Die Gasse ist eng und grau. Eine Schleuse für die Beschäftigten in farblosen Regenmänteln und schweren Schuhen, die sich wortlos aneinander vorbeischieben. Starre Blicke in ein Nichts ecken an den Seiten der Gasse an und suchen wieder die Leere. Die Beinpaare steuern auf ihre Ziele zu.
Beine statt leerer Maskengesichter, hat sie sich geschworen – nur ja nicht den Blick heben. Beine in Anzugshosen, Beine in dicken Strümpfen, Beine in Jeans. Sie versucht, einzuatmen. Es wird immer enger. Kein Platz für sie. Etwas kämpft sich in ihr hoch und sie ballt die Faust, um es nicht gewinnen zu lassen. Sie stolpert und stösst sich an jemanden mit Beinen in Arbeiterhosen. Raus hier. Sie versucht, links zu halten, während eine Schwere sich bemerkbar macht und sie immer weiter nach unten zieht. Ihre Augen brennen. Endlich – eine Wand zum Anlehnen. Sie presst die Lippen zusammen und die Wand presst sich ihr in den Rücken. Sie wischt sich über die Augen, ihre Finger werden feucht. Und kalt. Auch ihr Gesicht ist kalt. Ihr Blick zuckt hoch. Der graue Menschenbrei schleppt sich vorwärts, jeder Ohnmächtige mit seinem eigenen Zensurbalken im Gesicht. Und mit seiner Leere.
Sie tastet mit den Händen nach der Wand, drückt sie von sich, doch sie gibt nicht nach. Wo ist sie? Ihre Füsse verlieren den Halt, der Körper krampft sich zusammen. Wo ist die Menschlichkeit? Ihre Haare kleben im tränennassen Gesicht. Etwas schreit in ihr. Distanz, Abweisung, Isolation. Ich kann nicht mehr, dröhnt es in ihrem Kopf. Alles in ihr wehrt sich gegen die Gleichgültigkeit der Maskentragenden. Sie sind so viele, doch jeder schleppt sich allein durch diese verdammte Gasse. Jeder in seinem eigenen Käfig. Und ich habe keinen Schlüssel … Zitternd presst sie den Atem stossweise aus ihrer Brust. Ihr Blick hebt sich gegen ihren Willen. Die gleichgültigen Hüllen formieren sich, stampfen auf sie zu, im Gleichschritt, grau. Erfassen sie mit einem übermächtigen Sog. Die Welle bricht über ihr zusammen.
Sie bekommt keine Luft. Tritt um sich, windet sich, doch sie sinkt immer weiter nach unten. Verschwommen kann sie die Wasseroberfläche erahnen, ihr schrumpfendes, trübes Licht in weiter Ferne. Sie kämpft gegen die Schwere in ihrer Brust und den Druck, der sie klein macht. Sie glaubt, zu weinen, doch die Tränen verlieren sich in den Tiefen um sie herum. Sie windet sich in der Enge ihres Körpers, während das Gewicht des Wassers über ihr immer mächtiger wird. Wo ist die Menschlichkeit?! Sie stösst einen Schrei aus, doch die Tiefen dämpfen ihn zu einem Nichts. Niemand kann sie hören. Sie windet sich, doch ihre Bewegungen ermatten in der Schwere des Wassers. Ihre Arme und Beine erschlaffen. Das Gewicht ihres Körpers zieht sie in den Abgrund, die Finsternis umschliesst sie. Schwerer, immer schwerer.
Sie spürt, wie sich in ihr Dunkelheit auszubreiten beginnt. Ihr Kopf hebt sich. In weiter Ferne erkennt sie die Spiegelung des Tageslichts an der Wasseroberfläche. Sieht so Hoffnung aus? Sie schaut an sich hinab. Ihr Körper sinkt gleichgültig und grau in die Dunkelheit hinab.
Nein.
War das ihre Stimme? Das kleine Wort durchschneidet die Taubheit in ihrem Herzen. Ihr Blick sucht das kleine Leuchten an der Wasseroberfläche, wo das Licht die Schwere ablöst. Sie schliesst die Augen und fühlt es. Es ist da – hinter ihren Lidern. Am selben Ort, wie es immer gewesen ist. Langsam entspannt sie ihre Finger und öffnet die Faust. Ihre Hände geben alles frei, was sie festgeklammert hat, und lassen es in die Tiefe gleiten. Sie lässt sich in sich selbst hineinsinken, hin zum kleinen Leuchten hinter ihren Lidern. Ruhe breitet sich in ihr aus. Dann öffnet sie die Augen und holt Luft. Ihr Brustkorb drängt das Wasser zur Seite, macht sich weit. Sie atmet ein. Noch einmal. Das Leuchten der Wasseroberfläche kommt näher, während sie immer leichter wird. Sie spiegelt es wider. Mit jedem Atemzug. Bis ihr Gesicht die Wasseroberfläche durchbricht.
Sie schliesst unwillkürlich die Augen, als die Helligkeit über der Wasseroberfläche sie empfängt. Durch ihre Lider hindurch sucht sich das Licht seinen Weg in ihr Bewusstsein. Sie blinzelt und fährt sich über ihr nasses Gesicht. Kaum haben sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt, verliert sich ihr Blick in derselben Weite um sie herum, die auch ihre Brust ausfüllt. Noch einmal holt sie tief Luft, um beim Ausatmen endgültig alle Schwere dem Wasser zu übergeben, die sogleich in die Tiefe sinkt.
Ein sanfter Wind spielt mit ihren Haaren. Sie lächelt, während sie die Wärme des Sonnenlichts auf ihrer Haut wahrnimmt. Dann streckt sie Arme und Beine weit von sich, bis sie wie eine kleine Seerose auf dem weiten Wasser dahintreibt. Ihr Oberkörper hebt und senkt sich. Sie spürt, wie die Sonne sie mit ihren Strahlen umarmt und geniesst die Weite in ihrem Körper. Streckt sich aus, bis sie den ganzen Raum einnimmt und blickt in den Himmel. Umarmt ihn mit offenem Herzen. Sie spürt, wie ihr inneres Lachen eine Welle der Leichtigkeit durch ihre Glieder schickt. Sie fliegt. Und sie schliesst die Augen, bis sie ihre vertraute Wand wieder hinter sich fühlt.
Sie richtet sich auf. Ein Mann in Anzug mit Brille, eine junge Frau mit einem Kind an der Hand, ein älterer Herr mit schwer beladenem Rucksack – alle eilen an ihr vorbei, jeder mit seiner Maske. Sie steht daneben und atmet. Ihr ist nicht mehr kalt. Aus ihrem Herzen pulsiert das Licht. Ein Mann mit keckem Wuschelkopf und himmelblauer Maske nickt ihr freundlich zu. Sie strahlt ihn an, und das Strahlen spiegelt sich in seinen Augen. Er trägt es mit sich weiter. Immer noch lächelnd dreht sie sich gegen die Wand und öffnet die Tür, die in ihrem Rücken gewesen ist.
Beine statt leerer Maskengesichter, hat sie sich geschworen – nur ja nicht den Blick heben. Beine in Anzugshosen, Beine in dicken Strümpfen, Beine in Jeans. Sie versucht, einzuatmen. Es wird immer enger. Kein Platz für sie. Etwas kämpft sich in ihr hoch und sie ballt die Faust, um es nicht gewinnen zu lassen. Sie stolpert und stösst sich an jemanden mit Beinen in Arbeiterhosen. Raus hier. Sie versucht, links zu halten, während eine Schwere sich bemerkbar macht und sie immer weiter nach unten zieht. Ihre Augen brennen. Endlich – eine Wand zum Anlehnen. Sie presst die Lippen zusammen und die Wand presst sich ihr in den Rücken. Sie wischt sich über die Augen, ihre Finger werden feucht. Und kalt. Auch ihr Gesicht ist kalt. Ihr Blick zuckt hoch. Der graue Menschenbrei schleppt sich vorwärts, jeder Ohnmächtige mit seinem eigenen Zensurbalken im Gesicht. Und mit seiner Leere.
Sie tastet mit den Händen nach der Wand, drückt sie von sich, doch sie gibt nicht nach. Wo ist sie? Ihre Füsse verlieren den Halt, der Körper krampft sich zusammen. Wo ist die Menschlichkeit? Ihre Haare kleben im tränennassen Gesicht. Etwas schreit in ihr. Distanz, Abweisung, Isolation. Ich kann nicht mehr, dröhnt es in ihrem Kopf. Alles in ihr wehrt sich gegen die Gleichgültigkeit der Maskentragenden. Sie sind so viele, doch jeder schleppt sich allein durch diese verdammte Gasse. Jeder in seinem eigenen Käfig. Und ich habe keinen Schlüssel … Zitternd presst sie den Atem stossweise aus ihrer Brust. Ihr Blick hebt sich gegen ihren Willen. Die gleichgültigen Hüllen formieren sich, stampfen auf sie zu, im Gleichschritt, grau. Erfassen sie mit einem übermächtigen Sog. Die Welle bricht über ihr zusammen.
Sie bekommt keine Luft. Tritt um sich, windet sich, doch sie sinkt immer weiter nach unten. Verschwommen kann sie die Wasseroberfläche erahnen, ihr schrumpfendes, trübes Licht in weiter Ferne. Sie kämpft gegen die Schwere in ihrer Brust und den Druck, der sie klein macht. Sie glaubt, zu weinen, doch die Tränen verlieren sich in den Tiefen um sie herum. Sie windet sich in der Enge ihres Körpers, während das Gewicht des Wassers über ihr immer mächtiger wird. Wo ist die Menschlichkeit?! Sie stösst einen Schrei aus, doch die Tiefen dämpfen ihn zu einem Nichts. Niemand kann sie hören. Sie windet sich, doch ihre Bewegungen ermatten in der Schwere des Wassers. Ihre Arme und Beine erschlaffen. Das Gewicht ihres Körpers zieht sie in den Abgrund, die Finsternis umschliesst sie. Schwerer, immer schwerer.
Sie spürt, wie sich in ihr Dunkelheit auszubreiten beginnt. Ihr Kopf hebt sich. In weiter Ferne erkennt sie die Spiegelung des Tageslichts an der Wasseroberfläche. Sieht so Hoffnung aus? Sie schaut an sich hinab. Ihr Körper sinkt gleichgültig und grau in die Dunkelheit hinab.
Nein.
War das ihre Stimme? Das kleine Wort durchschneidet die Taubheit in ihrem Herzen. Ihr Blick sucht das kleine Leuchten an der Wasseroberfläche, wo das Licht die Schwere ablöst. Sie schliesst die Augen und fühlt es. Es ist da – hinter ihren Lidern. Am selben Ort, wie es immer gewesen ist. Langsam entspannt sie ihre Finger und öffnet die Faust. Ihre Hände geben alles frei, was sie festgeklammert hat, und lassen es in die Tiefe gleiten. Sie lässt sich in sich selbst hineinsinken, hin zum kleinen Leuchten hinter ihren Lidern. Ruhe breitet sich in ihr aus. Dann öffnet sie die Augen und holt Luft. Ihr Brustkorb drängt das Wasser zur Seite, macht sich weit. Sie atmet ein. Noch einmal. Das Leuchten der Wasseroberfläche kommt näher, während sie immer leichter wird. Sie spiegelt es wider. Mit jedem Atemzug. Bis ihr Gesicht die Wasseroberfläche durchbricht.
Sie schliesst unwillkürlich die Augen, als die Helligkeit über der Wasseroberfläche sie empfängt. Durch ihre Lider hindurch sucht sich das Licht seinen Weg in ihr Bewusstsein. Sie blinzelt und fährt sich über ihr nasses Gesicht. Kaum haben sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnt, verliert sich ihr Blick in derselben Weite um sie herum, die auch ihre Brust ausfüllt. Noch einmal holt sie tief Luft, um beim Ausatmen endgültig alle Schwere dem Wasser zu übergeben, die sogleich in die Tiefe sinkt.
Ein sanfter Wind spielt mit ihren Haaren. Sie lächelt, während sie die Wärme des Sonnenlichts auf ihrer Haut wahrnimmt. Dann streckt sie Arme und Beine weit von sich, bis sie wie eine kleine Seerose auf dem weiten Wasser dahintreibt. Ihr Oberkörper hebt und senkt sich. Sie spürt, wie die Sonne sie mit ihren Strahlen umarmt und geniesst die Weite in ihrem Körper. Streckt sich aus, bis sie den ganzen Raum einnimmt und blickt in den Himmel. Umarmt ihn mit offenem Herzen. Sie spürt, wie ihr inneres Lachen eine Welle der Leichtigkeit durch ihre Glieder schickt. Sie fliegt. Und sie schliesst die Augen, bis sie ihre vertraute Wand wieder hinter sich fühlt.
Sie richtet sich auf. Ein Mann in Anzug mit Brille, eine junge Frau mit einem Kind an der Hand, ein älterer Herr mit schwer beladenem Rucksack – alle eilen an ihr vorbei, jeder mit seiner Maske. Sie steht daneben und atmet. Ihr ist nicht mehr kalt. Aus ihrem Herzen pulsiert das Licht. Ein Mann mit keckem Wuschelkopf und himmelblauer Maske nickt ihr freundlich zu. Sie strahlt ihn an, und das Strahlen spiegelt sich in seinen Augen. Er trägt es mit sich weiter. Immer noch lächelnd dreht sie sich gegen die Wand und öffnet die Tür, die in ihrem Rücken gewesen ist.
BANK ON US - RECHNEN SIE MIT MIR.
Ein kleines graues Schlafzimmer, komplett ausgestopft mit stickiger Luft, welche die ganze Nacht hindurch allmählich verbraucht worden ist.
Eine giftgrüne Digitalanzeige eines auf dem im Halbdunkel kauernden Nachttisch stehenden Weckers, die auf 5:45 springt.
Ein mechanisches Piepen, das die dumpfe, dicke Stille zerreist – einmal, zweimal -…
Eine Hand, die sich unter der schweren Bettdecke hervorquält und es zum Schweigen bringt; Für die nächsten vierundzwanzig Stunden zumindest.
Der Mann, zu dem die Hand gehört, setzt sich auf. Noch bevor er sich erhebt, ruft er sich das Datum des heutigen Tages ins Gedächtnis, erinnert sich, dass er um 6:40 in der ersten Sitzung des Bankrats wird sein müssen und überprüft auf seinem Handy den Wetterbericht für heute. 5:47.
Zackig aufstehen, Anzug vom neben dem Bett stehenden Stuhl nehmen mit der Linken, die Bettdecke zurechtziehen mit der Rechten, Socken aus der Schublade holen, duschen. 6:02.
Zuerst die Socken, dann die Hose. Kaffee, die schwarze Kapsel, keine Milch. Hinsetzen – immer den zweiten Platz rechts – Haferflocken, Wirtschaftsspalte des Tages Anzeigers, den Kaffee trinken. 6:15.
Zähneputzen, Portemonnaie und Handy in die rechte Hosentasche, die braunen Schuhe, Jacke, bald beginnt die Sitzung. 6:22.
Rechts abbiegen, Strasse überqueren, um die Ecke gehen – halt.
Es beginnt zu regnen!
Überrumpelt sieht er zu, wie einzelne Regentropfen seinen teuren Anzug zu benetzen beginnen – Winzige schwarze Punkte auf seinem schönen Stoff.
Verdammt. Der Wetterbericht für heute hatte anders ausgesehen.
Schneller! Die Strasse runter, beim Pub links – «Verzeihung, darf ich Ihnen einen Platz unter meinem Schirm anbieten?»
Ein riesiger Schirm, der alle Farben der Welt zu vereinen scheint, leuchtet ihm grell entgegen. Ein Fremdkörper inmitten des Graus.
Er gehört zu einer schlanken Frau mit feuerrot gefärbtem lockigem Haar, deren Alter unmöglich einzuschätzen ist. Sie lacht ihm herzlich entgegen. Der Regen wird immer stärker.
«Gerne», antwortet der Mann ihr. Er schaut auf seine digitale Armbanduhr. «Aber ich muss mich beeilen, in der Bank rechnen sie mit mir. Sitzung.» 6:31.
Sie nimmt ihn unter ihren gigantischen Farbenschirm und macht keine Anstalten, sich zu beeilen, als sie sich in Bewegung setzen. «Ich bin Marie. Sind Sie morgens immer in diese Richtung unterwegs?» - «Ja, jeden Tag gehe ich zu Fuss zur Bank. Heute bin ich aber von diesem verdammten Regen überrascht worden.»
Marie lacht. «Wissen Sie, dieser Regen ist das Beste, was mir an diesem Morgen hat passieren können.»
- «Bitte wie?»
Zum ersten Mal schaut er sie richtig an. Das Lachen, welches ihren Mund umspielt, strahlt ihm auch aus ihren Augen – ihren tiefbraunen Augen – entgegen. Eine feurige Locke klebt an einer ihrer vollen Wangen, die geziert sind von charmanten Grübchen.
«Ich sagte, ich liebe diesen Regen. Halten wir kurz an.» Sie beiden bleiben mitten auf dem Gehsteig stehen, gemeinsam unter dem Prachtexemplar eines Regenschirms. Unruhig blickt er auf die Uhr. 6:35.
Er setzt an, sie zur Eile aufzufordern – doch irgendetwas hält ihn davon ab.
«Hören Sie den Regen?» Marie schliesst die Augen.
Verständnislos mustert er sie von der Seite. Dann aber bahnt sich langsam, schleichend, der Klang Abermillionen aufprallender Regentropfen den Weg in sein Bewusstsein. Beginnt, seinen ganzen Kopf auszufüllen. Sein Atem wird ruhiger.
«Ich liebe den Geruch des Regens in der Luft, liebe es, diese Frische, einzuatmen…»
Ein Sog kühler Regenluft breitet sich in seinem Oberkörper aus. Ja, er hört den Regen, und spürt ihn.
Marie betrachtet den grauen Mann und weiss, dass er keine Zeit hat.
«Aber wissen Sie, was ich am Regen am meisten liebe? Wie er vom Himmel fällt und die Strassen zum Glitzern bringt, wie er die Farben um uns herum verändert. Wie er sich tropfenweise niederlässt oder kleine Bäche und Pfützen bildet.»
Abrupt schliesst sie ihren Schirm.
Auf einmal leuchtet dem Mann die Stadt entgegen, in der er wohnt. Er sieht die Farben der Gebäude, den Verlauf der glitzernden Strassen. Sein Blick wandert gen Himmel. Wie sieht Regen aus, der vom Himmel fällt?
Eine Stille breitet sich in ihm aus.
«Marie, sie haben - » Doch Marie und ihr Schirm sind verschwunden.
Es durchzuckt ihn. 6:39! Die Sitzung!
Vor sich sieht er das Bankgebäude in den Himmel ragen. Sie rechnen mit ihm um genau 6:40.
Ohne nachzudenken rennt er los, die Beine tragen ihn durch die Pfützen, keine Zeit, über die Kreuzung, dann die Treppe hoch – und der Regen verschluckt ihn mit seinem Grau.
Eine giftgrüne Digitalanzeige eines auf dem im Halbdunkel kauernden Nachttisch stehenden Weckers, die auf 5:45 springt.
Ein mechanisches Piepen, das die dumpfe, dicke Stille zerreist – einmal, zweimal -…
Eine Hand, die sich unter der schweren Bettdecke hervorquält und es zum Schweigen bringt; Für die nächsten vierundzwanzig Stunden zumindest.
Der Mann, zu dem die Hand gehört, setzt sich auf. Noch bevor er sich erhebt, ruft er sich das Datum des heutigen Tages ins Gedächtnis, erinnert sich, dass er um 6:40 in der ersten Sitzung des Bankrats wird sein müssen und überprüft auf seinem Handy den Wetterbericht für heute. 5:47.
Zackig aufstehen, Anzug vom neben dem Bett stehenden Stuhl nehmen mit der Linken, die Bettdecke zurechtziehen mit der Rechten, Socken aus der Schublade holen, duschen. 6:02.
Zuerst die Socken, dann die Hose. Kaffee, die schwarze Kapsel, keine Milch. Hinsetzen – immer den zweiten Platz rechts – Haferflocken, Wirtschaftsspalte des Tages Anzeigers, den Kaffee trinken. 6:15.
Zähneputzen, Portemonnaie und Handy in die rechte Hosentasche, die braunen Schuhe, Jacke, bald beginnt die Sitzung. 6:22.
Rechts abbiegen, Strasse überqueren, um die Ecke gehen – halt.
Es beginnt zu regnen!
Überrumpelt sieht er zu, wie einzelne Regentropfen seinen teuren Anzug zu benetzen beginnen – Winzige schwarze Punkte auf seinem schönen Stoff.
Verdammt. Der Wetterbericht für heute hatte anders ausgesehen.
Schneller! Die Strasse runter, beim Pub links – «Verzeihung, darf ich Ihnen einen Platz unter meinem Schirm anbieten?»
Ein riesiger Schirm, der alle Farben der Welt zu vereinen scheint, leuchtet ihm grell entgegen. Ein Fremdkörper inmitten des Graus.
Er gehört zu einer schlanken Frau mit feuerrot gefärbtem lockigem Haar, deren Alter unmöglich einzuschätzen ist. Sie lacht ihm herzlich entgegen. Der Regen wird immer stärker.
«Gerne», antwortet der Mann ihr. Er schaut auf seine digitale Armbanduhr. «Aber ich muss mich beeilen, in der Bank rechnen sie mit mir. Sitzung.» 6:31.
Sie nimmt ihn unter ihren gigantischen Farbenschirm und macht keine Anstalten, sich zu beeilen, als sie sich in Bewegung setzen. «Ich bin Marie. Sind Sie morgens immer in diese Richtung unterwegs?» - «Ja, jeden Tag gehe ich zu Fuss zur Bank. Heute bin ich aber von diesem verdammten Regen überrascht worden.»
Marie lacht. «Wissen Sie, dieser Regen ist das Beste, was mir an diesem Morgen hat passieren können.»
- «Bitte wie?»
Zum ersten Mal schaut er sie richtig an. Das Lachen, welches ihren Mund umspielt, strahlt ihm auch aus ihren Augen – ihren tiefbraunen Augen – entgegen. Eine feurige Locke klebt an einer ihrer vollen Wangen, die geziert sind von charmanten Grübchen.
«Ich sagte, ich liebe diesen Regen. Halten wir kurz an.» Sie beiden bleiben mitten auf dem Gehsteig stehen, gemeinsam unter dem Prachtexemplar eines Regenschirms. Unruhig blickt er auf die Uhr. 6:35.
Er setzt an, sie zur Eile aufzufordern – doch irgendetwas hält ihn davon ab.
«Hören Sie den Regen?» Marie schliesst die Augen.
Verständnislos mustert er sie von der Seite. Dann aber bahnt sich langsam, schleichend, der Klang Abermillionen aufprallender Regentropfen den Weg in sein Bewusstsein. Beginnt, seinen ganzen Kopf auszufüllen. Sein Atem wird ruhiger.
«Ich liebe den Geruch des Regens in der Luft, liebe es, diese Frische, einzuatmen…»
Ein Sog kühler Regenluft breitet sich in seinem Oberkörper aus. Ja, er hört den Regen, und spürt ihn.
Marie betrachtet den grauen Mann und weiss, dass er keine Zeit hat.
«Aber wissen Sie, was ich am Regen am meisten liebe? Wie er vom Himmel fällt und die Strassen zum Glitzern bringt, wie er die Farben um uns herum verändert. Wie er sich tropfenweise niederlässt oder kleine Bäche und Pfützen bildet.»
Abrupt schliesst sie ihren Schirm.
Auf einmal leuchtet dem Mann die Stadt entgegen, in der er wohnt. Er sieht die Farben der Gebäude, den Verlauf der glitzernden Strassen. Sein Blick wandert gen Himmel. Wie sieht Regen aus, der vom Himmel fällt?
Eine Stille breitet sich in ihm aus.
«Marie, sie haben - » Doch Marie und ihr Schirm sind verschwunden.
Es durchzuckt ihn. 6:39! Die Sitzung!
Vor sich sieht er das Bankgebäude in den Himmel ragen. Sie rechnen mit ihm um genau 6:40.
Ohne nachzudenken rennt er los, die Beine tragen ihn durch die Pfützen, keine Zeit, über die Kreuzung, dann die Treppe hoch – und der Regen verschluckt ihn mit seinem Grau.
MONSTER
Heimfahrt.
Zusammengepfercht mit dutzenden anderen Pendlern stehe ich im Bus, hinter mir ein ermüdender Arbeitstag, vor mir ein weiterer einsamer Abend vor der Glotze, um mich herum regennasse Jacken an der meinen und monotone, ausdruckslose Gesichter fremder Menschen.
Die draussen herrschende Dunkelheit verwandelt die Scheiben des Busses zu Spiegeln, sie verzerren die Mitfahrenden zu dunklen, grotesken Schemen.
Die Kälte kriecht durch meinen Körper: Meine Füsse scheinen wie taub, das durchnässte Haar klebt mir an den Wangen.
Endlich – mein Stopp. Ein Schritt nach draussen, und ich werde vom dichten Regenvorhang umschlossen, dann von der gnadenlosen Schwärze verschluckt. Ich will nach Hause.
Mit einer schnellen Bewegung hole ich mit klammen Fingern meinen kleinen, farblosen Schirm aus dem Rucksack. Schultern hochziehen, Kragen über die Ohren, Hände in die Jackentaschen. Kopf senken.
Das mit kleinen Wasserbächen überzogene, im Licht der einsamen Strassenlaternen schimmernde Trottoir fliegt bei meinen zügigen Schritten wie ein Band unter mir hindurch.
Ich bin allein. Unbefahrene Strassen, wenige ausladende Häuser.
Irgendwann muss ich abbiegen; Eine schwarze Seitengasse empfängt mich mit ihrer Enge.
Als ich mit gesenktem Blick unter einer verwahrlosten Strassenlaterne hindurchgehe, stelle ich verwirrt fest, dass ich doch nicht allein zu sein scheine: In den dreckig gelben Lichtkegel zu meinen Füssen schiebt sich ein zweiter Schatten. Surreal langgezogen heftet er sich an meine Fersen, legt sich über mich. Ich blicke zurück – und mein Herz beginnt zu rasen.
Für einen Moment starre ich wie gelähmt diese Gestalt an, diese Kreatur – wie in Zeitlupe hinkt sie auf mich zu, während ihr hässlich entstelltes Gesicht sich in bleichem Gelb aus der alles verschluckenden Dunkelheit herausschält. Es gibt kein Zweifel: Sie verfolgt mich.
Ich renne, bevor ich fähig gewesen wäre, irgendetwas zu verarbeiten. Alles jenseits des Dröhnens meines unkontrolliert rasenden Herzschlages löst sich auf, meine Beine tragen mich immer schneller, schneller – schneller!
Dann, plötzlich, wird mein Rennen zu einem panischen Schlittern. Und ich spüre nichts, nichts – bis ich den Boden unter den Füssen verliere.
Ich habe diese verdammte Kurve zu schnell genommen.
Meine Sicht verschwimmt, während ein unbeschreiblicher Schmerz sich in meinem Knie ausbreitet und langsam Besitz von meinen Sinnen ergreift. Ich versuche panisch, mich abzustützen, wieder auf die Beine zu kommen – und dann kommt es.
Urplötzlich taucht dieses Monster direkt über mir auf, mich mit hässlicher Fratze anstarrend. Es beugt sich über mich in einer unnatürlichen Haltung - seine Schultern stehen schräg. Langsam, ganz langsam streckt es seine Hand nach mir aus, ich höre einen verzerrten Schrei aus meiner Kehle entweichen, versuche, wegzurobben – doch hinter mir ist die Wand.
„Hier, nehmen Sie!“
Eine Stimme? Eine menschliche Stimme?
Meine Sinne schaffen es erst, sie diesem DING, diesem MONSTER über mir zuzuordnen, als es mir etwas entgegenstreckt.
Mit Mühe erkenne ich ein schwarz glänzender Gegenstand in der Pranke dieses Ungetüms vor meinem Gesicht. „Ich verstehe nicht - “
„Sie haben sie verloren, als sie den Schirm aus ihrem Rucksack geholt haben. Ich dachte, dass sie sie noch brauchen.“ Fassungslos sehe ich den entstellten Menschen an, welcher mir hinkend bis hierhin gefolgt ist – und nehme vorsichtig meine Brieftasche an mich.
Zusammengepfercht mit dutzenden anderen Pendlern stehe ich im Bus, hinter mir ein ermüdender Arbeitstag, vor mir ein weiterer einsamer Abend vor der Glotze, um mich herum regennasse Jacken an der meinen und monotone, ausdruckslose Gesichter fremder Menschen.
Die draussen herrschende Dunkelheit verwandelt die Scheiben des Busses zu Spiegeln, sie verzerren die Mitfahrenden zu dunklen, grotesken Schemen.
Die Kälte kriecht durch meinen Körper: Meine Füsse scheinen wie taub, das durchnässte Haar klebt mir an den Wangen.
Endlich – mein Stopp. Ein Schritt nach draussen, und ich werde vom dichten Regenvorhang umschlossen, dann von der gnadenlosen Schwärze verschluckt. Ich will nach Hause.
Mit einer schnellen Bewegung hole ich mit klammen Fingern meinen kleinen, farblosen Schirm aus dem Rucksack. Schultern hochziehen, Kragen über die Ohren, Hände in die Jackentaschen. Kopf senken.
Das mit kleinen Wasserbächen überzogene, im Licht der einsamen Strassenlaternen schimmernde Trottoir fliegt bei meinen zügigen Schritten wie ein Band unter mir hindurch.
Ich bin allein. Unbefahrene Strassen, wenige ausladende Häuser.
Irgendwann muss ich abbiegen; Eine schwarze Seitengasse empfängt mich mit ihrer Enge.
Als ich mit gesenktem Blick unter einer verwahrlosten Strassenlaterne hindurchgehe, stelle ich verwirrt fest, dass ich doch nicht allein zu sein scheine: In den dreckig gelben Lichtkegel zu meinen Füssen schiebt sich ein zweiter Schatten. Surreal langgezogen heftet er sich an meine Fersen, legt sich über mich. Ich blicke zurück – und mein Herz beginnt zu rasen.
Für einen Moment starre ich wie gelähmt diese Gestalt an, diese Kreatur – wie in Zeitlupe hinkt sie auf mich zu, während ihr hässlich entstelltes Gesicht sich in bleichem Gelb aus der alles verschluckenden Dunkelheit herausschält. Es gibt kein Zweifel: Sie verfolgt mich.
Ich renne, bevor ich fähig gewesen wäre, irgendetwas zu verarbeiten. Alles jenseits des Dröhnens meines unkontrolliert rasenden Herzschlages löst sich auf, meine Beine tragen mich immer schneller, schneller – schneller!
Dann, plötzlich, wird mein Rennen zu einem panischen Schlittern. Und ich spüre nichts, nichts – bis ich den Boden unter den Füssen verliere.
Ich habe diese verdammte Kurve zu schnell genommen.
Meine Sicht verschwimmt, während ein unbeschreiblicher Schmerz sich in meinem Knie ausbreitet und langsam Besitz von meinen Sinnen ergreift. Ich versuche panisch, mich abzustützen, wieder auf die Beine zu kommen – und dann kommt es.
Urplötzlich taucht dieses Monster direkt über mir auf, mich mit hässlicher Fratze anstarrend. Es beugt sich über mich in einer unnatürlichen Haltung - seine Schultern stehen schräg. Langsam, ganz langsam streckt es seine Hand nach mir aus, ich höre einen verzerrten Schrei aus meiner Kehle entweichen, versuche, wegzurobben – doch hinter mir ist die Wand.
„Hier, nehmen Sie!“
Eine Stimme? Eine menschliche Stimme?
Meine Sinne schaffen es erst, sie diesem DING, diesem MONSTER über mir zuzuordnen, als es mir etwas entgegenstreckt.
Mit Mühe erkenne ich ein schwarz glänzender Gegenstand in der Pranke dieses Ungetüms vor meinem Gesicht. „Ich verstehe nicht - “
„Sie haben sie verloren, als sie den Schirm aus ihrem Rucksack geholt haben. Ich dachte, dass sie sie noch brauchen.“ Fassungslos sehe ich den entstellten Menschen an, welcher mir hinkend bis hierhin gefolgt ist – und nehme vorsichtig meine Brieftasche an mich.
SUMMER LOVE STORY
Sommerferien. Fünf Wochen frei, fünf Wochen chillen – zumindest für eine Kantischülerin wie mich. Diese fünf Wochen werden unter den Schülern geradezu vergöttert, auf die fiebern sie hin, wahrscheinlich monatelang; Sie sind es, die ihnen die Motivation für die letzten harten Prüfungswochen liefern, die ihrem Stress wie eine näher rückende Ziellinie entgegenleuchten.
Ja, auch ich zählte mich zu jenen, die die Sommerferien kaum abwarten konnten. Doch jetzt, wo ich meine Eltern allein habe nach Schottland fahren lassen und meine Kollegen irgendwo unterwegs sind, weiss ich gar nicht mehr so recht, was an diesen hochgelobten Sommerwochen denn so speziell sein soll. Wohin soll ich mit der ganzen Zeit?
Ich stehe am Morgen auf, hänge den ganzen Tag herum und schlafe wieder. Fantastisch.
Wenigstens war meine Idee, heute an den Zürichsee zu fahren und dort einige Stunden in der Sonne auf einer kleinen Steinmauer am Wasser zu liegen, nicht so schlecht. Meine Schuhe und Socken stehen auf dem Boden, nur einen Meter dahinter schlagen die kleinen, vom Wind und den Schiffen getriebenen Wellen gegen den Stein. Ich selbst liege einigermassen durchgeschwitzt auf dem Rücken, starre in den Himmel und sinniere einfach vor mich hin, angle mich vom einen Gedanken zum nächsten… Nur um in diesem Augenblick eine warme Hand an meiner nackten Schulter zu spüren. Ruckartig setze ich mich auf – und blicke in das schönste Jungengesicht, das ich jemals habe betrachten dürfen in meinen siebzehn Lebensjahren.
Entschieden unterdrücke ich den Reflex, mein Shirt zurecht zu zupfen oder mir durchs Haar zu fahren. Eine Extrareaktion darf er sich trotz seinem Äusseren gleich zu Beginn abschminken.
Oder vielleicht gerade wegen seinem Äusseren.
Er lächelt mich schüchtern an. „Hallo. Ich – klingt vielleicht blöd, aber hättest du Lust, dir ein wenig Zeit für mich zu nehmen?“ Mir bleibt die Luft weg. Ich werde nicht ganz schlau aus seiner Frage, ist das ein Anmachversuch oder will er sich nur nach dem Weg erkundigen? Forschend blicke ich ihm in seine gold-grünen Augen. Darin sehe ich ein Hauch von Verunsicherung, doch noch eine viel grössere Entschlossenheit – und Hoffnung. „Was meinst du?“, frage ich zurück.
Er steckt seine Linke in die Hosentasche und deutet mit der anderen auf eine Stelle etwas weiter unten am Ufer des Zürichsees. „Da hinten kann man Pedalos mieten. Hättest du Lust, mit mir auf den See zu kommen?“ Mein Herz schlägt schneller. Vor mir steht der schönste Junge auf Erden, blickt mich mit leicht geneigtem Kopf durchdringend an und will mit mir auf einem Pedalo auf dem See fahren – allein. Hastig kralle ich mir meine Sachen und schlüpfe in meine Schuhe: „Klar doch, ich habe Zeit. Sehr viel Zeit sogar.“ Ich lache, und ein leichtes Grinsen lässt Grübchen an seinen Wangen entstehen. Ich glaube, ich schmelze.
Eine halbe Stunde später sitzen wir nebeneinander auf einem Pedalo, etwa hundert Meter vom Ufer entfernt. Die uns aufgezwungenen Schwimmwesten haben wir gleich zu Beginn wieder ausgezogen. Bisher habe ich erfahren, wie er heisst und dass er gleich alt ist wie ich. Er ist nicht wortkarg, spricht aber auch nicht allzu breitwillig von sich, und immer wieder scheint er mit seinen Gedanken wo anders zu sein. Plötzlich hört er auf, in die Pedale zu treten. Ich tue es ihm gleich; wir treiben lautlos und ungestört auf den kleinen Wellen dahin. Eine Weile schweigen wir. Dann räuspert er sich. Seine Augen heften sich in die Ferne. „Du solltest erfahren, weshalb ich dich mitgenommen habe.“ Ich warte ab, beobachte ihn diskret. Der Wind spielt mit seinem dunklen Haar. Er scheint sich ein Herz zu fassen und setzt sich gerade hin. „Vor vier Stunden war ich beim Arzt.“ Mir stockt der Atem. Etwas ist hier ganz anders, als ich es angenommen hatte. Er schluckt schwer. „Er hat mir erklärt, dass – dass ich einen genetischen Defekt habe. Da kann man nichts dagegen tun, etwas beim Herzen.“ Jetzt sieht er mich direkt an, ergreift meine Hände. „Ich habe nicht mehr lange zu leben.“
Etwas in mir reisst. Ich starre ihn an, unfähig, etwas über die Lippen zu bringen. Ich sehe keine Tränen, keine Scham, keine Verzweiflung. Nur eine Bitte in seinen Augen.
„Weisst du, als der Arzt mir das sagte, hatte ich auf einmal das Gefühl, nie richtig gelebt zu haben – Wann habe ich einen Moment vollständig bewusst ausgekostet, wann war ich offen, unbeschwert und dankbar? Wann habe ich etwas Neues probiert, Verrücktes abgezogen… und wann habe ich wirklich geliebt?“ Ich spüre, wie mir die Röte in die Wangen schiesst. Ich umklammere seine Hände, suche Halt in seinen Augen. Er erscheint mir fremd und doch so nah. „In diesem Moment bin ich dem Arzt davongelaufen. Habe mich einfach in den Zug gesetzt, bin gefahren und gefahren. Ich landete am Zürichsee. Ich wanderte umher, sog alles ein, den Sonnenschein, die Temperatur, die Farben, die Geräusche. Das Gefühl, zu gehen, die Gesichter der an mir vorbeigehenden Menschen, die glitzernden Wellen, den Flügelschlag der Möwen. Und dann sah ich dich daliegen. Zum ersten Mal habe ich einen Reflex, eine plötzliche Idee nicht unterdrückt – und ich wollte mit dir allein sein, dich kennenlernen. Dich in meine Arme nehmen. Mit dir die Sonne und die Wellen und den Wind geniessen. Ja.“
Er lässt meine Hände los und schweigt. Ich lehne mich nicht zurück. Zuerst bleibt mein Blick auf seinem wunderschönen Gesicht ruhen, dann hebt er sich; wandert über die Hügelzüge, die Wellen, das Ufer, wie seiner es tat. Ich nehme das Schaukeln des Pedalos wahr, das Streicheln des Windes, die Wärme der Sonne auf meiner Haut. Jetzt bin ich da.
Und ich sage nichts, als mein Blick zu ihm zurückkehrt, wo seiner schon auf mich wartet. Ich sage nichts, denn die Verbundenheit, die Bewunderung, die Trauer, die Furcht – all das kann ich nicht in Worte fassen.
So beuge ich mich wortlos zu ihm hinüber, spüre, wie er seine Arme um mich legt, ziehe ihn an mich – und küsse ihn aus innerster Überzeugung.
Ja, auch ich zählte mich zu jenen, die die Sommerferien kaum abwarten konnten. Doch jetzt, wo ich meine Eltern allein habe nach Schottland fahren lassen und meine Kollegen irgendwo unterwegs sind, weiss ich gar nicht mehr so recht, was an diesen hochgelobten Sommerwochen denn so speziell sein soll. Wohin soll ich mit der ganzen Zeit?
Ich stehe am Morgen auf, hänge den ganzen Tag herum und schlafe wieder. Fantastisch.
Wenigstens war meine Idee, heute an den Zürichsee zu fahren und dort einige Stunden in der Sonne auf einer kleinen Steinmauer am Wasser zu liegen, nicht so schlecht. Meine Schuhe und Socken stehen auf dem Boden, nur einen Meter dahinter schlagen die kleinen, vom Wind und den Schiffen getriebenen Wellen gegen den Stein. Ich selbst liege einigermassen durchgeschwitzt auf dem Rücken, starre in den Himmel und sinniere einfach vor mich hin, angle mich vom einen Gedanken zum nächsten… Nur um in diesem Augenblick eine warme Hand an meiner nackten Schulter zu spüren. Ruckartig setze ich mich auf – und blicke in das schönste Jungengesicht, das ich jemals habe betrachten dürfen in meinen siebzehn Lebensjahren.
Entschieden unterdrücke ich den Reflex, mein Shirt zurecht zu zupfen oder mir durchs Haar zu fahren. Eine Extrareaktion darf er sich trotz seinem Äusseren gleich zu Beginn abschminken.
Oder vielleicht gerade wegen seinem Äusseren.
Er lächelt mich schüchtern an. „Hallo. Ich – klingt vielleicht blöd, aber hättest du Lust, dir ein wenig Zeit für mich zu nehmen?“ Mir bleibt die Luft weg. Ich werde nicht ganz schlau aus seiner Frage, ist das ein Anmachversuch oder will er sich nur nach dem Weg erkundigen? Forschend blicke ich ihm in seine gold-grünen Augen. Darin sehe ich ein Hauch von Verunsicherung, doch noch eine viel grössere Entschlossenheit – und Hoffnung. „Was meinst du?“, frage ich zurück.
Er steckt seine Linke in die Hosentasche und deutet mit der anderen auf eine Stelle etwas weiter unten am Ufer des Zürichsees. „Da hinten kann man Pedalos mieten. Hättest du Lust, mit mir auf den See zu kommen?“ Mein Herz schlägt schneller. Vor mir steht der schönste Junge auf Erden, blickt mich mit leicht geneigtem Kopf durchdringend an und will mit mir auf einem Pedalo auf dem See fahren – allein. Hastig kralle ich mir meine Sachen und schlüpfe in meine Schuhe: „Klar doch, ich habe Zeit. Sehr viel Zeit sogar.“ Ich lache, und ein leichtes Grinsen lässt Grübchen an seinen Wangen entstehen. Ich glaube, ich schmelze.
Eine halbe Stunde später sitzen wir nebeneinander auf einem Pedalo, etwa hundert Meter vom Ufer entfernt. Die uns aufgezwungenen Schwimmwesten haben wir gleich zu Beginn wieder ausgezogen. Bisher habe ich erfahren, wie er heisst und dass er gleich alt ist wie ich. Er ist nicht wortkarg, spricht aber auch nicht allzu breitwillig von sich, und immer wieder scheint er mit seinen Gedanken wo anders zu sein. Plötzlich hört er auf, in die Pedale zu treten. Ich tue es ihm gleich; wir treiben lautlos und ungestört auf den kleinen Wellen dahin. Eine Weile schweigen wir. Dann räuspert er sich. Seine Augen heften sich in die Ferne. „Du solltest erfahren, weshalb ich dich mitgenommen habe.“ Ich warte ab, beobachte ihn diskret. Der Wind spielt mit seinem dunklen Haar. Er scheint sich ein Herz zu fassen und setzt sich gerade hin. „Vor vier Stunden war ich beim Arzt.“ Mir stockt der Atem. Etwas ist hier ganz anders, als ich es angenommen hatte. Er schluckt schwer. „Er hat mir erklärt, dass – dass ich einen genetischen Defekt habe. Da kann man nichts dagegen tun, etwas beim Herzen.“ Jetzt sieht er mich direkt an, ergreift meine Hände. „Ich habe nicht mehr lange zu leben.“
Etwas in mir reisst. Ich starre ihn an, unfähig, etwas über die Lippen zu bringen. Ich sehe keine Tränen, keine Scham, keine Verzweiflung. Nur eine Bitte in seinen Augen.
„Weisst du, als der Arzt mir das sagte, hatte ich auf einmal das Gefühl, nie richtig gelebt zu haben – Wann habe ich einen Moment vollständig bewusst ausgekostet, wann war ich offen, unbeschwert und dankbar? Wann habe ich etwas Neues probiert, Verrücktes abgezogen… und wann habe ich wirklich geliebt?“ Ich spüre, wie mir die Röte in die Wangen schiesst. Ich umklammere seine Hände, suche Halt in seinen Augen. Er erscheint mir fremd und doch so nah. „In diesem Moment bin ich dem Arzt davongelaufen. Habe mich einfach in den Zug gesetzt, bin gefahren und gefahren. Ich landete am Zürichsee. Ich wanderte umher, sog alles ein, den Sonnenschein, die Temperatur, die Farben, die Geräusche. Das Gefühl, zu gehen, die Gesichter der an mir vorbeigehenden Menschen, die glitzernden Wellen, den Flügelschlag der Möwen. Und dann sah ich dich daliegen. Zum ersten Mal habe ich einen Reflex, eine plötzliche Idee nicht unterdrückt – und ich wollte mit dir allein sein, dich kennenlernen. Dich in meine Arme nehmen. Mit dir die Sonne und die Wellen und den Wind geniessen. Ja.“
Er lässt meine Hände los und schweigt. Ich lehne mich nicht zurück. Zuerst bleibt mein Blick auf seinem wunderschönen Gesicht ruhen, dann hebt er sich; wandert über die Hügelzüge, die Wellen, das Ufer, wie seiner es tat. Ich nehme das Schaukeln des Pedalos wahr, das Streicheln des Windes, die Wärme der Sonne auf meiner Haut. Jetzt bin ich da.
Und ich sage nichts, als mein Blick zu ihm zurückkehrt, wo seiner schon auf mich wartet. Ich sage nichts, denn die Verbundenheit, die Bewunderung, die Trauer, die Furcht – all das kann ich nicht in Worte fassen.
So beuge ich mich wortlos zu ihm hinüber, spüre, wie er seine Arme um mich legt, ziehe ihn an mich – und küsse ihn aus innerster Überzeugung.